Die ehemalige Villa Fresena war die Sommerresidenz von Reichskanzler Bülow

Text und Bilder von Michael Fleischer

Beitrag vom Freitag, 23. April 2021

Vor 100 Jahren auf Norderney: Reichskanzler Bülow Ziel eines Attentäters

Von Michael Fleischer

David Braun, Schneidergeselle aus Stuttgart, war fest entschlossen, Reichskanzler Bernhard von Bülow auf Norderney zu erschießen. Er rechnete damit, dass auch er dabei sein Leben verlieren würde, sei es, dass ein Leibwächter des Kanzlers ihn erschießen würde oder dass er selbst sich die Kugel geben würde, um dem sicheren Schafott zu entgehen. Sein Leben war ihm nichts mehr wert, denn eine fortgeschrittene Tuberkulose gab ihm nur noch wenig Lebenszeit. Die wollte er nutzen, um mit Bülow einen Gegner der Sozialdemokratie zu beseitigen.

Ausritt Bülows auf Norderney
Ausritt Bülows auf Norderney

Am 26. Juli 1908 erreichte Braun das Seebad Norderney. Im Verzeichnis der Gäste der Insel findet sich die Eintragung: „Angemeldet bis 26. Juli: Braun, David, Stepper, Berlin, Damenpfad 26“. Er gab also nicht seinen wirklichen Herkunftsort an. Sein Beruf „Stepper“ erwies ihn als Spezialist für Steppnähte bei der Textilverarbeitung. Sein Quartier im sogenannten „kleinen Damenpfad“ lag nur 150 Meter von der Unterkunft seines Opfers, der Villa „Edda“, entfernt. Bei seinen Wirtsleuten erkundigte er sich nach den Lebensgewohnheiten der Bülows, besonders nach der Zeit ihrer Strandspaziergänge.

Spaziergang mit Verfolgung

Bülow spaziert in der Strandstraße
Bülow spaziert in der Strandstraße

Am nächsten Tag schon machte sich Braun auf, um das Ehepaar Bülow aus der Ferne zu beobachten. Der Kanzler ging mit seinem persönlichen Ordonnanzoffizier Schwarzkoppen, der für seinen Schutz verantwortlich war, auf der Promenade spazieren. Seine Frau Marie von Bülow, geborene Prinzessin von Camporeale, folgte einige Schritte hinter den beiden, um die Unterhaltung ihres Gatten mit seinem Adjutanten nicht zu stören. David Braun folgte dem Ehepaar Bülow auch abends bei dessen Spaziergang vor der Villa Edda. Eine Begleitung war nicht dabei, da es sich nur um einen kurzen Abendbummel am Strand handelte. Marie von Bülow bemerkte den hartnäckigen Verfolger und wurde unruhig. Sie ging ein paar Schritte langsamer, um zwischen ihrem Mann und der ihr unheimlichen Gestalt zu gehen. Bülow erinnerte sich später an diese Situation, die er damals für harmlos hielt: „Ich pflegte nach dem Abendessen mit meiner Frau einen Spaziergang am Strande zu unternehmen, wo wir um diese Stunde kaum noch Menschen begegneten. Meine Frau glaubte zu bemerken, dass ein ihr unbekannter Mann uns folgte, und in ihrer rührenden Fürsorge für mich wollte sie, um mich zu schützen, zwischen dem Mann und mir gehen, was uns Anlass zu Neckereien bot.“

Attentatsplan geht nicht auf

Am 29. Juli war der Kanzler plötzlich verschwunden. Braun erkundigte sich nach seinem Verbleib und erfuhr, dass Bülow für längere Zeit nicht auf der Insel sein werde. Vermutlich habe er in Berlin wichtige Geschäfte zu erledigen, müsse vielleicht sogar den Kaiser aufsuchen, der sich an der Ostsee befinde. Zwei Tage später berichteten die Wirtsleute, was sie in der Zeitung gelesen hatten: 31. Juli: „Heute morgen machte der Kaiser einen Spaziergang an Land und fuhr dann in Begleitung des Reichskanzlers im Automobil nach Heringsdorf.“ Damit war für David Braun klar, dass sein Attentatsplan hinfällig war. Der Besuch Bülows beim Kaiser konnte sich noch lange hinziehen. Geld für einen längeren Aufenthalt auf Norderney hatte Braun nicht. Bis zum 3. August wartete er noch auf den Kanzler. Unruhig lief er über die Insel, Hunger plagte ihn, der Wind setzte dem geschwächten Körper zu. So beschloss er seinem Leben am Strand ein Ende zu setzten, aber er wollte nicht allein sterben. Eine schöne Frau sollte ihn ins Jenseits begleiten.

Brauns Abschiedsbrief

Er verfasste einen Abschiedsbrief, den er in die Tasche steckte: „An die Polizei! Sollten Sie mich sterbend finden, so lassen Sie mich ruhig sterben. Ich war des Lebens satt, von dem ich nichts mehr zu hoffen hatte. Ich bedauere mein Opfer sehr, aber ich konnte nicht anders. Ich musste mich rächen an irgendeinem schönen Weibe, welches ich gern lieben möchte. Es ist aber schon zu spät, da ich ohne Mittel bin und keinen anderen Ausweg mehr finde. So sterbe ich mit dem Bewusstsein, meine Schuldigkeit getan zu haben. Ich hatte mir eigentlich ein anderes Opfer auserlesen, und zwar den bekannten Wahlrechtsfeind, den Fürsten Bülow, welcher das arbeitende Volk bei jeder Gelegenheit verhöhnt und beleidigt hat. Nun reichen ja meine Mittel nicht mehr aus, um den Fürsten Bülow von Berlin kommend, zu erwarten, sonst wäre ihm eine Kugel sicher gewesen. Dies ist der Grund, welchen ich anfangs erwähnte, zu meiner schrecklichen Tat. (gez.) D. Braun.“

In der Abenddämmerung des 3. August sah er eine elegante Dame, die von der Kaiserstraße kommend an der Marienhöhe vorbei in Richtung Westbad ging. Er folgte ihr bis zur Villa „Hanebuth“, die noch heute direkt am Westbad steht, zog seine Pistole und feuerte auf sie. Sofort setzte er die Waffe an sein Ohr und drückte ab. Über den schrecklichen Vorfall stand am 5. August in der Norderneyer Badezeitung: „Norderney, 4. August. Ein sich vorübergehend hier aufhaltender Schneidergeselle hat gestern Abend am Südstrande, in der Nähe der Villa Hanebuth auf eine Dame, Frau U. aus Bremen, geschossen und dieselbe am Halse verwundet. Der Täter erschoss dann sich selbst.

Nach einem bei demselben vorgefundenen an die Polizei gerichteten Brief handelt es sich um den an Lebensüberdruss leidenden Schneidergesellen Braun aus Stuttgart, der aller Mittel entblößt war. Das Befinden der Dame ist ein zufriedenstellendes und die Schusswunde nicht lebensgefährlich.“ Das geplante Attentat auf den Kanzler hielt die Polizei geheim. Bülow legte großen Wert darauf, dass niemand von dem Vorfall etwas erfuhr. Dass er noch lebte, verdankte er vor allem der Tatsache, dass David Braun sich in seiner Verwirrung am Tage seiner Wahnsinnstat nicht mehr nach Bülows Rückkehr erkundigt hatte. In der Zeitung des 3. August, einem Montag, war nämlich zu lesen gewesen: „Reichskanzler Fürst Bülow ist heute Morgen wieder auf unserer Insel eingetroffen.“

Rüstungswettlauf mit England

Reichskanzler Bülow auf der Terrasse der Villa Fresena
Reichskanzler Bülow auf der Terrasse der Villa Fresena

Wäre Brauns Attentatsplan geglückt, so hätte die Weltgeschichte möglicherweise einen anderen Verlauf genommen, denn Bülow versuchte seit Wochen mit Aufbietung aller diplomatischen Mittel einen drohenden Weltkrieg zu verhindern. Sein von ihm als Außenminister 1897 geprägtes Programm, dass Deutschland einen „Platz an der Sonne“ anstreben müsse, hatte in Verbindung mit der von Admiral Tirpitz betriebenen deutschen Flottenrüstung zu einem Rüstungswettlauf mit England geführt. Die Briten beobachteten seither argwöhnisch das Flottenbauprogramm der Deutschen.

Mit großen finanziellen Anstrengungen entwickelte England als Entgegnung auf das seit 1897 laufende Flottenbauprogramm Deutschlands einen neuen Schlachtschiff-Typ. Es präsentierte im Jahre 1906 mit der „Dreadnought“ ein besonders stark gepanzertes und mit großkalibrigen Geschützen bestücktes Kriegsschiff, das alle bisher gebauten Schiffe museumsreif erscheinen ließ. Im Jahr 1907 folgte ein ähnlich mächtiges Schiff, die „Invincible“. Es war daher für England kaum glaublich, dass die deutschen Werften mit der sogenannten „Königs-Klasse“ Schiffe vom Stapel ließen, welche die englischen Großkampfschiffe an Panzerung, Präzision der Geschütze und Geschwindigkeit noch übertrafen. Im März 1908 lief mit der „Nassau“ der erste Neubau dieser Klasse vom Stapel. Das maritime Wettrüsten war in voller Stärke in Gang gekommen. Admiral Tirpitz und Kaiser Wilhelm II triumphierten. Bülow, Holstein, Graf Wolff-Metternich und viele andere Diplomaten waren tief besorgt. Im Sinne einer Politik, die England gegenüber eine beruhigende Haltung vertreten sollte, versuchte Bülow bei seinem Blitzbesuch an der Ostsee auf den Kaiser einzuwirken. Erfolg hatte er damit nicht. Der Kaiser hielt an der Flottenrüstung fest.

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