Seeklinik Norderney

Foto: Linke

Beitrag vom Freitag, 19. November 2021

Der Beginn einer Aufarbeitung

Unter dem Titel „Das Elend der Verschickungskinder“ kommen an diesem Wochenende Betroffene der Kinderverschickungen der Fünfziger- bis Achtzigerjahre zu einem Kongress auf der Insel Borkum zusammen. Vier Tage lang stehen dabei der gemeinsame Austausch, Buchvorstellungen und Fachvorträge auf der Tagesordnung.

Organisiert wurde die Zusammenkunft durch die „Initiative Verschickungskinder“, die seit mehreren Jahren Erfahrungsberichte von ehemaligen Kurkindern sammelt und eine Aufarbeitung des Systems der bundesweiten Entsendung von Kindern in Erholungsheime und Heilstätten sowie von Missständen in den damaligen Einrichtungen fordert.Auch in Norderneyer Einrichtungen wurden bis in die Achtzigerjahre hinein Klein- und Schulkinder zur Erholung oder Behandlung von Krankheiten untergebracht. Im August diesen Jahres hat die Diakonie Niedersachsen eine geschichtswissenschaftliche Dokumentation vorgestellt, welche die Verhältnisse in mehreren Einrichtungen in Trägerschaft diakonischer Einrichtungen untersucht, darunter auch das damalige Seehospiz und das ehemalige Marienheim auf Norderney.

Strafen und angstvoller Umgang

Die durch den Historiker Stefan Kleinschmidt und die Historikerin Dr. Nicole Schweig durchgeführte Dokumentation stützt sich auf Akten aus dem Niedersächsischen Landesarchiv, aus landeskirchlichen Archiven sowie auf ärztliche Jahresberichte des Seehospizes aus den Fünfziger- bis Achtzigerjahren sowie zwei Interviews mit langjährigen Mitarbeiterinnen des Seehospizes.
„Gedacht waren diese Kuren zur Gesundung und Erholung“, heißt es in dem von Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen, formulierten Vorwort zu der Dokumentation: „Oftmals haben viele Kinder aber unter einem lieblosen und angstvollen Umgang gelitten und mussten Strafen fürchten und erdulden.“ Aus den durchgesehenen Akten ließen sich wiederkehrende Probleme entnehmen, die den Betrieb der Kinderheime erschwert hätten, darunter bauliche Mängel, eine Überbelegung der Heime in den 1950er und 1960er Jahren sowie ein großer Mangel an Mitarbeitern in den Häusern. In den Akten fänden sich zudem Hinweise auf Züchtigungen von Kindern sowie Beschwerden über nicht kindgerechtes oder liebloses Verhalten, so Lenke. So beschreibt die Historikerin Schweig die Kündigung eines Facharztes zum Anfang des Jahres 1974 nach nur zweimonatiger Anstellung im Seehospiz mit der Begründung, dass kranke Kinder in der Einrichtung geprügelt würden. Aus einem Jahresbericht geht zudem hervor, dass die monatelange Trennung der Kinder von ihren Familien von dem damaligen Chefarzt Prof. Dr. Wolfgang Menger als förderlich für das Erlernen von Selbstständigkeit angesehen wurde und auch zur Entlastung der Mütter „dringend geboten sei“, führt Schweig aus.

Keine schlüssigen Antworten

„Wir freuen uns, dass die niedersächsische Diakonie als Träger den Anfang gemacht hat, Akten zu sichten, zu bewerten und zu beurteilen“, heißt es in einer Pressemitteilung der Initiative Verschickungskinder. Eine „kritische Durcharbeitung“ von Seiten der Initiative stehe jedoch noch aus.
Bruno Toussaint, einer der Moderatoren des Betroffenen-Blogs „Seehospiz Forum Romanum“, bezeichnete auf Nachfrage die Dokumentation der Diakonie als „echte Blaupause“ für eine anschließende qualitative Recherche. „Die tatsächliche Qualität und Komplexität der Misshandlungen übersteigt jedoch um ein Vielfaches die Fakten, die sich aus der Dokumentation des Historikerteams Stefan Kleinschmidt und Dr. Nicole Schweig ableiten lassen.“ Zudem gebe diese noch keine schlüssige Antwort auf die Frage, was im Detail wirklich passiert sei „und warum so viele Menschen heute noch von Traumata berichten, die ihr gesamtes weiteres Leben überschatten. Die Dokumentation könnte also viele Fragen beantworten, wenn sie als Grundlage für eine qualitative und vor allem interdisziplinäre Forschung genutzt würde“, so Toussaint.

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